Holger Reimer – „Heutige züchterische Möglichkeiten erlauben extremere Anpaarungen!“

Seit 23 Jahren kennt man Holger Reimer durch diverse Tätigkeiten in allen möglichen züchterischen Bereichen der RinderAllianz (RA) und seiner Vorgängerorganisation RMV. Der Sire Analyst, der maßgeblich am Aufbau des Mecklenburger Testherdensystem inklusiver seiner gewaltigen Datenerfassung beteiligt war, ist einer der großen Verfechter moderner Zuchtmethoden. Welche Möglichkeiten die genomische Selektion und moderne Instrumente wie BAP oder Kuhvision vor allem großen kommerziellen Betrieben bieten, lässt sich im strukturstarken Zuchtgebiet der RA natürlich besonders gut beobachten. Holgers Ideen basieren auf intensiven Beobachtungen. Thesen auf Basis langer praktischer Erfahrungen.

Foto/Text: Stephan Schneider, KuhFacto

Nein, dieses Interview ist alles andere als langweilig. Wir treffen Holger Reimer auf einem Milchviehbetrieb in Mecklenburg und so, wie man ihn aus seinem beruflichen Alltag als Sire Analyst kennt, ist er auch jetzt ziemlich gut vorbereitet. Und eins merkt man wie immer sofort: Seine Arbeit sieht Holger, der durch die intensive Zusammenarbeit mit GGI-Spermex und die Mitwirkung am Sunrise Sale auch die vielfältigen Ansichten internationaler Züchter kennt, nicht einfach als Beruf. Sonst wäre seine Leidenschaft für die Zucht nicht so groß. Und sonst kämen seine vielen präzise formulierten Aussagen nicht so klar beim Zuhörer an. „Wenn du mit den Managementmaßnahmen in deinem Betrieb möglichst viele Kühe erreichen willst, brauchst du eine möglichst homogene Herde!“, ist etwa eines dieser Statements, die hängen bleiben. Oder: „Genomics haben uns in die Lage versetzt, viel genauer und gleichzeitig extremer anpaaren zu können.“ Oder: Wenn du Genomics so gewinnbringend wie möglich nutzen willst, musst du alle Instrumente der modernen Zucht nutzen!“ Legen wir also los.

Holger, das Zuchtgebiet der Rinder-Allianz besitzt eine in Deutschland einzigartige Struktur. Wie entwickeln sich die Kuhzahlen in den Großbetrieben?

Reimer: Mit 262.000 MLP- und 192.000 HB-Kühen sind wir nach wie vor Deutschlands drittgrößter Zuchtverband aber der Strukturwandel geht weiter. Weiterhin steigen immer wieder auch große Betriebe aus der Milchproduktion aus. Bei einer Herdbuchdichte von 73% melken unsere 494 Mitgliedsbetriebe im Schnitt 389 Kühe.

Welche Bedeutung hat die Zucht in den Betrieben?

Reimer: Es gibt zu viele unterschiedliche Philosophien, um hier eine pauschale Antwort zu geben. Dass der Einsatz von Deckbullen zurück geht und gleichzeitig eine steigende Nachfrage nach unserem Besamungsservice und vor allem unseren modernen Zuchtinstrumenten wie BAP oder Kuhvision festzustellen ist, spricht eine deutliche Sprache. Analysiert man die besten Betriebe in unserem Zuchtgebiet, dann sind darunter unsere Testherden und diejenigen Betriebe mit intensiver Zuchtarbeit überproportional stark vertreten. Das nehmen auch andere Betriebe war und intensivieren ihr Interesse. Die Lust an der Zucht beweisen auch unsere gut besuchten Zuchtveranstaltungen wie der Sunrise Sale, unsere Verbandsschau HolsteinVision und ganz besonders die sehr aktive Jungzüchterszene.

In welchen Merkmalen, denkst Du, hat sich die Population seit Einführung genomischer Zuchtwerte am besten entwickelt? Wo siehst du Defizite?

Reimer: Die Qualität der Euter und Beine hat sich deutlich verbessert. Zeitgleich steigt das Leistungsniveau bei weiter steigender Nutzungsdauer. Daraus ergeben sich permanent neue züchterische Herausforderungen. Die aktuell stärker werdende Diskussion über längere Zwischenkalbezeiten etwa ist so eine.

Welche Art von Bullen setzen die Betriebe ein?

Reimer: Grundsätzlich sind komplette Bullen mit Stärken in Leistung, Inhaltsstoffen, Strichlänge und -platzierung, mittlerer Größe, Nutzungsdauer und Gesundheit immer gefragt. Auch die Nachfrage nach Hornlosbullen steigt. Vor allem unsere Kuhvisions-Betriebe nutzen immer häufiger die Möglichkeit, Bullen mit deutlich unterschiedlichen Schwerpunkten im Vererbungsprofil auszuwählen. Züchter können heutzutage extremer anpaaren. Sie erhoffen sich dadurch einen schnelleren Ausgleich deutlicher Schwächen ihrer Jungrinder und Kühe. Grundlage dieser Zuchtphilosophie ist die höhere Sicherheit genomischer Zuchtwerte auf der weiblichen Seite. Aus meiner Sicht ist die Chance auf eine möglichst punktgenaue Anpaarung der wichtigste Grund dafür, die eigene Herde typisieren zu lassen. Die positiven Effekte werden im Stall schnell sichtbar werden.

Wie hoch ist der Anteil genomischer Jungbullen?

Reimer: Im Schnitt über alle RA-Betriebe liegen wir aktuell bei 78% genomischer Jungbullen, wobei der Einsatz in Mecklenburg-Vorpommern nach wie vor etwas intensiver ist als in Sachsen-Anhalt.

Warum werden nicht mehr töchtergeprüfte Vererber eingesetzt?

Reimer: Tatsächlich stelle ich großes Vertrauen in genomische Jungbullen fest. Viele Betriebe melken bereits selbst Töchter der hohen töchtergeprüften Bullen und vertrauen besonders deshalb auf die jüngere Bullengeneration. Glücklicherweise haben wir eine Vielzahl starker töchtergeprüfter Bullen wie Bonum, Singer, Custos und andere im Angebot. Betriebe, die mit weniger Aufwand, geringerem Risiko und etwas weniger Geschwindigkeit eine einheitliche und produktive Herde entwickeln wollen, können diese sicheren Bullen im breiten Umfang einsetzen. Grundsätzlich denke ich aber, dass sich Betriebe, die innovative Instrumente der Zucht konsequent nutzen wollen, auf genomische Jungbullen setzen sollten, um ihre züchterischen Ziele schneller zu erreichen.

Der letzte Schätztermin hat einmal mehr für Diskussionen gesorgt, weil sich genomische Topbullen im Töchtertest nicht bestätigen? Wie denkst du darüber?

Reimer: Zuerst sollte man sich darüber bewusst sein, dass wir bei genomischen Bullen mit geringeren Sicherheiten agieren. Zuchtwertschwankungen, positiv wie negativ, sind also grundsätzlich zu erwarten. Hinzu kommt, dass wir in den vergangenen zwei Jahren umfangreiche Anpassungen im Schätzsystem vorgenommen haben. Diese waren sinnvoll, zielgerichtet und notwendig. Sie haben zwangsläufig auch Veränderungen in den Zuchtwertniveaus einzelner Bullen verursacht. Eine Bilanzierung der Zuchtwertentwicklung einzelner Bullen erscheint mir vor diesem Hintergrund unseriös. Übrigens erleben wir derartige Schwankungen in allen Schätzsystemen weltweit. Zu den Akteuren der Zucht, die von kleineren Schwankungen der Zuchtwertniveaus überproportional stark betroffen sind, zählen neben uns Zuchtorganisationen vor allem die Züchter, welche ins absolute Topsegment der Rasse investieren. Um deren Risiko zu minimieren, unterstützen wir sie umfangreich beispielsweise durch die Mitfinanzierung biotechnischer Maßnahmen der NOG-ET-Station in Nückel. Aus Sicht der RinderAllianz kann ich feststellen, dass der Einsatz unserer Topbullen Zuchtfortschritt garantiert. Die Liste unserer heute höchsten töchtergeprüften Bullen ist fast deckungsgleich zu den meisteingesetzten Jungbullen von vor drei und vier Jahren. Unsere töchtergeprüften Bullen des Geburtsjahrganges 2015 haben heute einen Zuchtwert zwischen 114 und 150 RZG. Ich denke, die Auswahl des tatsächlich passenden Bullen sollte eine größere Bedeutung haben als seine Rangierung.

Trotzdem ist es ein Phänomen, dass der Anteil der Zuchtverbände mit idealen Teststrukturen, also auch Verbände wie die RA oder der Nachbarverband RBB, auf den Töchterlisten im Verhältnis zur Testkapazität so stark vertreten sind.

Reimer: Ganz allgemein gilt es jederzeit, die Datenerfassung zu optimieren. RA arbeitet seit 2005 und RBB seit 2008, also weit vor Einführung von Genomics, mit insgesamt etwa 100 ProFit-Testherden zusammen. Mit wissenschaftlicher Begleitung wurden bisher etwa 10 Millionen Diagnosedaten standardisiert erfasst. Unsere Datenerfassung bildete die bedeutende Grundlage für die Zuchtwertschätzung neuer Merkmale mit geringer Erblichkeit, vor allem im Gesundheitssegment. Wesentliche Voraussetzung für zuverlässige Zuchtwertergebnisse bleibt weiterhin die Organisation eines repräsentativen und kurzfristigen Ersteinsatzes der Jungbullen.

Mit der August-Zuchtwertschätzung wird mit dem RZ€ ein weiterer Gesamtzuchtwert eingeführt. Könnte er den RZG als wichtigsten Selektionsindex ablösen?

Reimer: Nein, das glaube ich nicht. Aber er wird eine wichtige Ergänzung und zusätzliches Instrument sein, um der zunehmenden Anzahl an Betrieben mit einer eher ökonomischen Zuchtphilosophie eine Selektionsgrundlage zu bieten. Wichtig zu wissen ist, dass der RZ€ auf realen Praxisdaten aus repräsentativen Betrieben und Tierarztpraxen sowie auf den derzeit zu erzielenden Milchpreisen basierend entwickelt wurde.

Gibt es Merkmale, die Du in Zukunft gerne stärker in den Mittelpunkt gerückt sehen würdest?

Reimer: Wir Rinderzüchter können uns dem gesellschaftlichen Verlangen nach mehr Schonung von natürlichen Ressourcen nicht entziehen. Wenn wir diesem Anspruch gerecht werden wollen, muss das Leistungspotential bei gleichzeitig verbesserter Fitness und Nutzungsdauer weiter gesteigert werden. Sinnbildlich gesprochen wünsche ich mir eine homogene Herde von Kühen, die ohne erheblichen Leistungspeak über möglichst viele Laktationstage (vielleicht 500?) hinweg sehr hohe Tagesgemelke mit gleichzeitig hohen Inhaltsstoffen produzieren, ohne dabei Probleme zu verursachen. Das klingt zunächst unrealistisch, jedoch gibt es genug Beispiele für Einzelkühe innerhalb außergewöhnlich produktiver Herden, die dieses Ziel bereits erreichen. Dafür wäre es hilfreich, wenn wir die Entwicklung im Bereich Futtereffizienz vorantreiben im Sinne von: Welche Kuh produziert aus möglichst viel aufgenommenen Futter die meiste Milch pro Futtereinheit bei zeitgleich möglichst geringem Erhaltungsbedarf? Ketose, Harnstoff, Durchhaltevermögen und Robotereignung sind weitere wichtige Themen der Zukunft. Wünschenswert wäre der erweiterte routinemäßige Einsatz des Embryotransfers. Die dafür erforderlichen Strukturen (Anzahl ET- Teams, Kosten, Erfolgsquoten) sollten verbessert werden. Wir sind auf einem guten Weg, weil wir als Sire- Analysten die Erfahrungen aus dem Alltag unserer Milchviehhalter in unsere Entscheidungen für unser Zuchtprogramm einfließen lassen. Wir sitzen alle in einem Boot!

ZUR PERSON:

Der 49-jährige Holger Reimer wuchs bei Rostock auf. Nach seiner Ausbildung und Wehrdienstzeit war er nach der Wende am Aufbau einer Herde mit etwa 300 Holsteinkühen beteiligt. Er selbst bezeichnet sein Praktikum auf dem bekannten Zuchtbetrieb von Heinrich Blunck in Schleswig-Holstein als Ausgangspunkt für sein ausgeprägtes züchterisches Interesse. 1997 folgte der Wechsel zur damaligen Rinderzucht Mecklenburg-Vorpommern GmbH (RMV), wo er im Laufe der Jahre in fast allen züchterisch relevanten Bereichen des Unternehmens arbeitete, wozu seit langem auch die Aufgabe des Sire Analysten zählt.

Vielen Dank an KuhFacto und Stephan Schneider für die Bereitstellung des Beitrags!

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